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Ritalin vs. Scientology

1) Promi-Boxen
Promi-Boxen war zu dieser Zeit wieder einmal groß in Mode. Wie jeder andere Unsinn erlebte auch Promi-Boxen etwa alle 20 Jahre ein unerklärliches Comeback und dominierte für ein Jahr die Oster- oder Weihnachtszeit der 200 beliebtesten Privatsender. Für Promi-Boxen war es jetzt schon das zweite Comeback. Und das obwohl das nach dem eher langweiligen ersten Comeback, das in der Hauptsache aus ziemlich langweiligen Duelle irgendwelcher alter, längst vergessener Bundeskanzler und Ex-US-Präsidenten bestand, kaum von Irgendwem erwartet oder sogar erhofft wurde.
Dennoch schien das 14.Juni Event auf RTLBox8 in jeder Hinsicht ein Erfolg zu werden. Das lag vor allem an den diesmal doch deutlich interessanteren Kontrahenten.
Da hatten wir auf der einen Seite Ritalin: Ein verschlagener hagerer Bursche, ein guter Boxer, sicher, aber doch auch ein bißchen eine Art Bad Boy, ein Typ, der gleichzeitig das Idol kleiner Kinder und der Schrecken alter Väter sein konnte, auf jeden Fall aber ein Superstar: rebellisch und selbstbewußt. Geliebt und umstritten.
Scientology war auf jeden Fall der Außenseiter. Scientology wurde von jedem gekannt, aber von niemandem gemocht. Nur Scientology-Fans fanden Scientology richtig gut, und das hauptsächlich auch nur deshalb, weil alle anderen Scientology eben scheiße fanden. Scientology war dick, fett, häßlich, und ein brutaler Schläger. Die Boxkommision hatte Scientology schon des öfteren wegen Doping und Gewalttätigkeit gesperrt - Ritalin dagegen nicht, und das war auch wichtig für sein Image - aber seit Mike Tyson einfach beim besten Willen ZU tot war, um nochmal einen großen Fight zu liefern, war Scientology die erste Wahl.
Scientology war kein schlechter Boxer, sondern einfach nur ein Unsympath. So war der Ausgang dieses Kampfes doch weitaus weniger sicher, als einem das die Trailer im Fernsehen weismachen wollten.
Der Kampf würde spannend werden.
Die Quoten waren gut.

2) Die letzte Sinnkrise der Menschheit
Vor 15 Jahren war Scientology noch eine mittelmäßig erfolgreiche Sekte, und Ritalin die beliebsteste Amphetamin-Droge der 4 bis 17jährigen. Was die Popularität anging waren die Weichen also schon gestellt. Dennoch konnte der Geist von Programmchef Thoma, der gerade in einem neuem Macintosch-Computer das in 15 Jahren fällige zweite Comeback des Promi-Boxen plante, noch nicht mit seinen beiden Hauptdarstellern rechnen. Dafür waren sie einfach noch viel zu unfigürlich. Ritalin präsentierte sich den meisten Menschen weitgegend als ca. 10×6×2 cm große blaßrosa Pappschachtel mit einem Inhalt von 2×12 Pillen, ausreichend für 14 Tage um den gestörten Balg ruhigzustellen. Scientology lieferte sogar ein noch verschwommeneres Bild. Scientology war einfach da, man konnte es sich aber zum Beispiel nicht so einfach einschmeißen, oder zusammenknüllen oder in eine Schublade legen. Scientology war auch damals schon fett, häßlich und unbeliebt, Ritalin rebellisch, umstritten, der Traum junger Mütter und das Verhängnis junger Kinder. Auch das sollte sich also nicht mehr ändern.

Es war der 24. November 2022. In den Tiefen der Forschungseinheit SHAC, dem Super-Heavy Atom Collider in der Wüste von Arizona stieg eine Party. Es war eine richtige Physiker-Party und alle waren strunzbesoffen. Die SHAC (vgl. "shack"=engl. kleine Hütte, darum DIE SHAC) war ein Teilchenbeschleuniger, ein unterirdischer Ring von 141 km Durchmesser eines 20 cm dicken Stahlrohres zwischen abertausenden supraleitender Magneten, mit denen man Teilchen auf annähernd Lichtgeschwindigkeit beschleunigen und irgendwo dagegen schießen konnte. Der Aufprall eines kleinen Teilchen mit Lichtgeschwindigkeit entsprach dann etwa dem Aufprall eines VW-Golf mit Mach 50 gegen eine Wand: schlichtweg verheerend. Anders als mit einem noch ungetunten VW-Golf konnte man in der SHAC durch die Kollisionen aber auch kurzzeitig in Naturgesetzte hereinpfuschen, und so nicht existente Teilchen zur Existenz bringen, und eine ganze Suppe merkwürdiger neuer Materie erschaffen.
Das Kochen in dieser Suppe war die größte Freude der Teilchenphysiker, und an diesem Mittwoch Abend wurde das einjährige Bestehen der SHAC gefeiert.
Man stieß fröhlich an auf President Diesel, der vor gut 5 Jahren die benötigten 700 Milliarden Dollar für den Bau locker gemacht hatte, wohl zum Teil auch als Dankbarkeit über die Mithilfe diverser Teilchenphysiker beim Gewinnen des fünften Golfkrieges. Andererseits hatten zu dieser Zeit auch andere Monumentalbauten, wie eine 200m hohe Pyramide aus Stahl und ein 1000 Meter hoher Obelisk aus Uran in den USA ihre Hochzeit. Man sehnte sich nach etwas Großem und Monumentalem, nach etwas an das die Menschheit noch in ferner Zukunft denken konnte, und schiß eben kurz mal auf das Staatsdefizit. Also konnte man den quengelnden Physikern auch eine SHAC bauen. Um kurz nach Mitternacht kam einer Gruppe frisch promovierter Physiker, wie sie später glaubhaft beteuerten "nur so aus Scheiß" auf die Idee, die 20 cm Beschleunigerröhre zu öffnen und mit dem Teilchenstrahl statt auf irgendwelche Ziele im 500 Tonnen Detektor zur Abwechslung mal auf den Mond zu schießen, um zu sehen "ob da halt irgendwas Krasses abgeht, oder so". Eine Begnadigung kam nach diesem Statement allerdings nicht mehr in Frage. Der Mond als Ziel lieferte keine wirklich krassen Sachen, von einem kleinen Fleck dampfendem Mondgestein einmal abgesehen. Dennoch konnten die Physiker am nächsten Tag nicht wie geplant ihren Kater auskurieren.

Hoch über der Erde befinden sich die verschiedensten Sphären. Ionosphäre, Magnetosphäre und dann irgendwann auch die Atmosphäre. Irgendwo dazwischen liegt ein ungefähr 1,4 cm breites Band einer stehenden elektromagnetischen Welle mit einer Eigenfrequenz von 8 Hertz. Überall auf der Welt schlafen nun die Menschen in ihrem Traumschlaf bei ganz bestimmten EEG-Frequenzen, ebenfalls exakt 8 Hz. Ob nun Weltraumwelle oder Mensch mit den 8 Hz-Unsinn angefangen haben weiß man heute noch nicht, jedenfalls kann man auf diese weltumspannende EM-Antenne ganz im klassischen UHF-Stil prima irgendwelche Sachen aufmodulieren, und am geeignesten erwies sich dazu wie erwartet ein friedlich schlummerndes, 8 Hz pulsendes menschliches Gehirn. Nachdem man erkannt hatte, daß man als Mensch also buchstäblich 24 Stunden am Tag unter einer riesigen, weltumspannenden Handyantenne lebte, und jeder Mensch ununterbrochen jeden anderen Menschen an-SMS-ste, passierten mehrere Dinge.
Zunächst war Schluß mit den Religionen. Soweit so gut. Dann war natürlich auch Schluß mit den Psychiatern und Psychologen, und manch einer prophezeite schon einen neuen Garten Eden, da stürzte die Menschheit in eine tiefe Identitätskrise. Nachdem die ehemals übernatürlichen Phänomene eines universellen, kollektiven Bewußtseins der Menschheit gelöst waren, trat das viel größere Rätsel auf, wie denn nun eigentlich ein individuelles Bewußtsein, das einem früher doch von jedem zugesprochen wurde, überhaupt möglich sei. Letztlich stellte sich heraus, daß es eben NICHT möglich ist, und so kam man zu der Übereinkunft, daß ein jeder Mensch und jeder Charakter doch nichts anderes ist, als gewissermaßen die Nutte aller anderen Menschen und Charaktere. Aus einer verwirrenden Vielfalt wurde im allgemeinen Menschenbild also ein frustrierendes Einheitsgrau. Da sich nun aber jeder von jedem gleichermaßen als gefickt betrachten konnte, unabhängig von Reichtum und sozialem Stand, läutete die Entdeckung des "world-wide completely wireless nets", dessen User jetzt zwangsläufig ein jeder war, auch eine Phase des neuen ungebremsten Hedonismus und einer weiteren Steigerung der oben schon erwähnten Baufreude an Monumenten ein.
Gleichzeitig machten Kriege auch wesentlich mehr Spaß, da man nun die verhaßten Moslems nicht nur zusammenbomben konnte, sondern sich mit diesem Zusammenbomben auch von dem widerlichen Gedanken-Müll befreien, ja geradezu reinwaschen konnte. "Jeder Toter Moslem ist nicht nur ein toter Moslem, sondern auch ein gefährlicher Gedanke weniger in den Köpfen junger Amerikaner." (Bobby Bush, 2013 - und gleichzeitig der Anfang des "Amerikanischen Holocaust").

Die fröhlich wabernde Schuman-Resonanz mit ihren 8 Hertz in 40 km Höhe verband also alle Menschen, und beherbergte alle Gedanken als sie an einem Mittwoch Abend plötzlich der Partikelstrahl aus der SHAC traf. Partikelstrahl und EM-Feld mußten kurz überlegen, was sie denn nun miteinander anfangen sollten, der Partikelstrahl beschloß aber recht schnell, das zu tun was er schon seit jeher getan hatte, nämlich eigentlich nicht existentem zur Existenz zu verhelfen. Die Schuman-Resonanz war daraufhin erst ein bißchen beleidigt, denn als bloße EM-Welle hatte sie wirklich NICHTS vergleichbares zu bieten, fing aber dann an, wie ein alter Mann der vom Krieg erzählt, mit ihrem Wissen bzw. dem kollektivem Wissen der Menschheit zu protzen. Der Partikelstrahl blieb weiterhin stur und materialisierte wild um sich, inzwischen schon förmlich eingehüllt von dem Gelaber der Schuman-Resonanz.

3) Alles wird gut
Am nächsten Morgen war es wahr geworden. Alles, was mit einer ausreichenden Intensität von einer ausreichenden Anzahl Menschen im Bewußten oder Unterbewußten getragen wurde, hatte sich in der Nacht davor über der Erde zu einem Klumpen an Schwingungen zusammenresonieren können. Und die waren ein gefundenes Fressen für den Partikelstrahl. Es war tatsächlich passiert. Unsere Gedanken waren Realität geworden. Es ging sprichwörtlich rund.

Nachdem in den ersten Clonkriegen die Millionen plötzlich auftauchender Elvis Presleys und Marilyn Monroes wieder in den Kreislauf der Natur eigegliedert und Afrika unter einer 200 Meter dicken Brotschicht wieder ausgegraben wurde, war aber auch wieder alles ganz in Ordnung. Die neuen Persönlichkeiten und Dinge die an jenem "eleven-twentyfour" auf die Erde regneten, waren die Geschöpfe der Menschen, und so kamen sie gut mit Menschen aus, ja waren sogar verhältnismäßig beliebt. So konnte man mal tiefgründig mit Gewalt diskutieren, hören, was der Mittelstand wirklich wollte, und Steuererhöhung und Arbeitslosigkeit tüchtig auf die Fresse hauen. Sonntags besuchte man Liebe und Frieden zu einer Tasse Tee, hörte gemütlich die alten Anekdoten der Mondlandung und sah sich am Sonntag Abend Ritalin gegen Scientology an.

Mondlandung lebt übrigens ganz hier in der Nähe, in einem Häuschen in Bad Tölz. Ritalin ist Kosmopolit.