← Texte: Roman Stumm

Roman Stumm

Der Hunger

So still um mich. So dunkel und kühl. Es ist feucht und ich liege hier, weiß nicht seit wann. Aber ich liege weich. In meinem Bett? Meine Glieder sind steif, so steif, dass ich erst langsam, ganz langsam beginnen kann meine Finger zu be- wegen. Ich habe Hunger. Das ist das erste, was ich fühle; aufstehen und essen, ein Zwang.

Langsam kehren Gedanken zurück. Noch muss ich still liegen und warten. Es regen sich nur meine Hände, zuckend und schlecht gesteuert. Zäh gleiten die Gedanken in die Vergangenheit, wo es außer Hunger und Verlangen noch mehr gab. Schmerz war da. Und Wut. Demütigungen auf einem steinigen, langen Weg, der plötzlich endete ohne ein Ziel erreicht oder gekannt zu haben. Zweifel, ständige Zweifel und die Suche nach Liebe. Ein Schmerz durchzuckt mich. Nicht mein Körper ist es, sondern der Hunger. Wonach?

Auf dem Weg gab es Prüfungen. Für mich jetzt unbedeutend, aber nicht damals.
Viele Prüfungen und viele Tode. Nicht der eine, letzte Tod, sondern viele kleine.
Die Trennung von der Mutter. Die Kälte der Menschen um mich herum. Die Schwächen des eigenen Körpers. Als Kind schon verordnete man mir den Tod in täglicher Dosis: Antibiotika, bis auch deren Wirkung nachließ. Ein Stück Leben überwunden. Die Mutter, zwar schon ferner, aber noch immer bemüht, ein steriles Umfeld zu schaffen. Schon als Kind keimfrei gelebt. Ein kleiner Tod.

Andere saugten von meinem Leben. Während der Schulzeit, der Lehre. Wie viel wurde mir genommen? Hackordnung, Unterordnung, Verrat. Angst vor Lehrern und noch mehr vor den anderen, denen es so ging wie mir. Ständig auf der Hut nicht aufzufallen. Kopf geduckt, aber doch immer wieder Verletzungen. Sie haben mir viel geraubt, Vertrauen, Selbstvertrauen, Glaube. Ich habe immer gegeben, konnte nie nehmen. Warum nicht? Jetzt schütteln mich furchtbare Krämpfe. Meine Arme zucken. Es riecht ü bel. Hungerkrämpfe sind es - nach Leben. Das schmerzt mehr als die Verletzungen des Körpers. Verletzungen, die nie verheilt sind, zeichnen auch meine Seele. Verluste, denen hinterher zu trauen noch jetzt ein zu großer Schmerz für mich ist. Verlorene Lieben, gestorbene Freunde. Sie hinterließen ihren Tod in mir. Flüssigkeit rinnt aus meinen Augen, klebrig. Sie liegen tief in ihren Höhlen und starren in die Dunkelheit, die vollkommen ist.

Was hat man mir damals zurückgegeben? Noch mehr Tod, als die Ideale geopfert werden mussten. Als Ohnmacht herrschte. Das Umfeld, es war lebensfeindlich und perfektionierte sich darin. Die eigene Ohnmacht zu spüren, dabei noch alle Kräfte zu investieren für welchen Lohn? Dafür, zu erkennen, das vieles vergeblich war und die Zeit zu schnell vergeht. Der Zerfall, der mich jetzt umgibt, er setzte schon damals ein. Die Hülle nutzte sich ab, auch die Seele. Ich muss mir etwas davon zurückholen. Moral zerfloss unter meinen Händen. Jeder kaute die Moral der anderen, ein bitterer Geschmack. Innere Verrohung war die Folge. Nicht nur bei mir, aber für mich ein weiterer Todesschritt. Äußere Verrohung wurde nicht toleriert, damit das falsche Bild seine Asthetik nicht verliert. Ich glaube, ich habe sie nun verloren, aber das ist unbedeutend. Mein Verlangen zwingt mich, mich zu erheben, aber etwas hält mich zurück. Bewegungen meines Körpers werden möglich, aber ich stoße an eine Decke und kann mich nicht aufsetzen. Es knirscht und knackt. Es ist nicht das Holz des Deckels, der mich einengt und dieses Geräusch verursacht.

Ich will rufen, aber Worte zu formen fällt mir schwer. Nur unartikulierte Laute entweichen, die kehlig-grunzend klingen. Ich poche und kratze am Holz. Zwei Nägel lösen sich von meinen Fingern, wenngleich die Hülle keinen Schmerz mehr sendet. Nur der Hunger wird unerträglich. Es ist stickig. Ein modriger Geruch umgibt mich. Man wird mich daran erkennen, doch ist das meine Schuld? Angst verspüre ich keine. Mir scheint, ich werde nicht ersticken. Weiter schabe ich am Holz, um mich zu erheben und zu suchen, was meinen Hunger stillen kann.
Späne und Splitter lösen sich. Der Deckel ist nicht sehr hart und meine Kräfte wachsen mit meinem Hunger.

Ich erinnere mich an ihr Lachen, ihren Geruch. Lebendig und frisch. Meine Frau, mein Sohn. Freunde, die ich hatte. Sehnsucht erwacht in mir, ihnen wieder nahe zu sein, meinen Hunger bei ihnen zu stillen. Wie habe ich es vergessen können? Was trennte mich von ihnen? Mein letzter Tod, er war ein Unfall. Ich spüre noch den Aufprall, den Zusammenstoß der Wagen. Glas zerbricht und unter kreischendem Lärm kommen die Massen der beschleunigten Wagen abrupt zum Stehen. Blech zerschneidet mein Bein, durchbohrt mich und quetscht meinen Kopf. Knochen springen hervor, heraus aus Gelenken und Fleisch. Der Schock raubt mir den Atem, doch ich bleibe bei Besinnung. Ich erinnere mich, wie ich sah, dass Feuer in anderen Wagen auflodert. Die Hitze zog zu mir und Qualm stach in meine Augen und Lunge. Der Geruch verbrannter Körper, er war mir unerträglich. Ubertönt wurden sie Sirenen der herannahenden Helfer nur von meinen Schreien. Kälte stieg in mir auf und die Schmerzen des Körpers mehrten sich. Der Blutverlust brachte Ohnmacht und Erlösung von den Qualen, bevor ich aus meinem deformierten Gefängnis befreit wurde. Meine Frau und mein Sohn. Sie waren nicht bei mir. Ich war allein mit diesem Tod. Manche sterben nie so ganz. Wie oft kann man sterben bis man tot ist? Und was kommt danach?

Seither ist nicht viel passiert. Ich musste warten. Man hat mich hierher ge bracht, weg von den anderen, die noch weitere Tode vor sich haben. Weg von dem, was mir noch Leben geben kann. Man brachte mich hierher an diesen Ort, wo nur Stille ist und Zerfall. Ich wollte nie hier sein. Habe immer gesagt, wenn es so weit ist, dann möchte ich brennen, nicht frieren und faulen. Brennen ist endgültig und schnell. Sie haben nicht gehorcht und ich habe gewartet, bis mich mein Hunger erweckte und eine neue Kraft meinen Korpus durchfuhr. Jetzt verstehe ich, wie man mich zurückhalten will. Der Deckel soll mich abhalten, meinen Hunger zu stillen! Doch meine Wut auf jene, die dies zuließen, sie wird ihn sprengen. Weitere Anstrengungen folgen und Span um Span löst sich unter meinen donnernden Schlägen. Die Ruhe ist gestört, doch nun bricht das Holz des Deckels. Feuchte Erde dringt hinein. Es ist noch immer dunkel, aber die Erde ist locker. Nun kann ich graben. Es geht langsam voran, nach oben, immer nach oben zum Leben. Getrieben vom Hunger scharre ich weiter, spucke und grunze. Müdigkeit kann ich nicht fühlen. Mein Körper und die Erde, die mich begräbt, sind eins.

Hass und Verlangen treiben mich. In immerwährender Suche nach dem, was meinen Hunger stillt, der nun mein ganzes Denken kontrolliert. Ich werde sie alle besuchen. Meine Frau, meinen Sohn, meine Freunde. Sie werden mir zu essen geben. Meinen Geruch und meinen Anblick müssen sie nicht lange er tragen. Ich werde schnell essen. Sie sind nur noch einen Tod hinter mir. Was macht das schon? Sie werden mir alsbald folgen. Bald schon stehe ich vor der Tür und sie werden überrascht sein. Durch den Regen werde ich gehen, lautlos, zu Fuß, nachts, denn nur fahles Mondlicht können meine wunden Augen nach all der Dunkelheit noch schauen. Mein Geruchssinn wird mich leiten. Bald bin ich durch, und ich werde sie finden. Dann wird gegessen. Verhungern werde ich nicht.

Hennef, August 2002