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Thomas Ponten

Der Kandidat

Du denkst, du hättest es im Fernsehen gesehen.
Du bildest dir ein, davon geträumt zu haben.
Die normalen, alltäglichen Dinge die dir widerfahren, sind so nichtig, dass du sie dir nie merkst.
Die paar großen Augenblicke, die du hattest, vermischen sich im nachhinein mit Fernseherinnerungen.
Du weißt nicht mehr genau, ob du vor einem Monat mit dieser tollen Frau geschlafen hast, oder der junge Assistenzarzt aus Emergency Room.
Oder Roseanne.
Oder ALF.
Das eigene, wirklich Große Kino, die persönlichen Mega-Blockbuster-Film-Filme...
Kein gutes Thema für ein Assoziationsspielchen.
Deine Geburt!
Ja, das war eigentlich klasse!
Obwohl der Ton schlecht war.

Deine persönliche Befriedigung ist es, gegen 8 Uhr Hausfrauen beim Verlieren hoher Beträge zu betrachten.
Oberstudienräte zu beobachten, die sich für das falsche Tor entscheiden.
Dich über Leute lustig zu machen, die vollkommen sinnlose Aufgaben nicht erfüllen können, rohe Eier zermalmen, anstatt mit einem Traktor darüber zu fahren.
Die Kollegen im Büro mögen dich nicht, weil du noch am Donnerstag davon erzählst, wie sich jemand am Samstag lächerlich gemacht hat.

"Noch ca. 5 Minuten! Kandidat 3, Stichwort: Oberhausen. Einmarsch nicht verpatzen. Bei 'Oberhausen' zum Tor, beim Jingle rausgehen. Direkt zum Moderator, wie in der Probe. Nicht zu viel Winken, niemanden grüßen, den Moderator nicht berühren. Noch 4 Minuten!"

Dann fällt dir wieder ein, daß nächsten Montag alle über dich lachen werden, wenn du dich nicht anstrengst, wenn du nicht Wettkönig wirst, wenn du dem Nationaltorhüter zu lange die Hand schüttelst oder der Moderator dich lächerlich macht.
Oder du ihn.
Die dümmste Idee, die du jemals in deinem Leben hattest.
Und das ganze live aus der Mehrzweckhalle in Kiel.
Und dir kommt es vor, als würde dein Leben davon abhängen.
Noch 3 Minuten.

Du siehst dich um, musterst die anderen Kandidaten, die nach dir dran kommen.
Ein Blinder, der Biermarken, an dem Geräusch beim Öffnen erkennt.
Ein Zehnjähriger, der sämtliche Pokemon-Folgen nach 5 Sekunden Ausschnitten erkennt und den Episodennamen nennt.
Inklusive Erstausstrahlungsdatum.
Harte Konkurrenz.
Wenn du doch wenigstens einen Hund dabei hättest.
Du nimmst dir vor, beim Einzug zu humpeln, zu hoffen, daß dich der Moderator darauf anspricht, es auf einen Geburtsfehler zurück zu führen.
Das mag makaber sein.
Habe ich etwas anderes behauptet?
Aber so funktioniert Fernsehen, das weißt du aus Erfahrung.
2 Minuten.

Ein letztes Glas Leitungswasser.
Die Kohlensäure im Mineralwasser könnte dazu führen, daß du aufstoßen mußt.
In dem Moment, in dem der Moderator dich etwas fragt, dir das Mikrophon vor dein Gesicht hält.
"Was machen sie beruflich?"
"Böörp!"
Das würde dich dein ganzes Leben lang verfolgen.
Darüber würde sich sogar noch der Pfarrer bei deiner Grabrede lustig machen.
Der Blinde kommt auf dich zu und reicht dir die Hand.
"Möge der Bessere gewinnen."
"Möge der Beinträchtigtere gewinnen", denkst du dir.
Niemand würde so etwas laut aussprechen.
Mach dir keine Vorwürfe !

Noch 10 Sekunden.
Kragen zurecht rücken.
8
Ein letztes Mal am Reißverschluß kratzen.
7
Ein Blick in den Spiegel verrät dir, daß du nie im Leben besser aussahst.
6
5
4
".... aus Oberhausen"
3
Du gehst zum Tor.
2
Der Jingle setzt ein.
Dein Auftritt.
Und das Schicksal zeigt dir, was es wirklich von dir hält.

Du gerätst in dem Moment ins Stolpern, als du dir beim Einmarsch nicht mehr sicher bist, mit welchem Bein du hinken wolltest.
Du fällst.
Du überschlägst dich.
Du landest auf dem Bauch.
Das sieht komischer aus, als es ist.
Der Nationaltorhüter ist sofort bei dir.
Hilft dir auf. Klopft dir auf die Schulter. Es wird alles gut.
Nach einer halben Minute bittet er dich, doch jetzt seine Hand wieder loszulassen.
Sein Applaus.

Die nächsten Minuten wie in Trance.
Der Moderator faselt etwas.
Plötzlich hörst du wieder, was er sagt, wie ein Signal, deutlicher als das 'Oberhausen' hinter der Bühne.
".... behauptet also: Wetten daß, ich es schaffe, 10 Frauen aus meiner Heimatstadt am Geruch ihrer Stiefel zu erkennen!"
Dein Puls steigt.
Das war nicht vereinbart.
Das willst du gar nicht können.
So etwas darf man nicht können.
Du überlegst dir einen Rückzieher zu machen.
Keine Chance, wenn du hier als Wettkönig rausgehen willst.
Der Nationaltorhüter meint daß du es nicht schaffst, als Wetteinsatz bietet er einen heißen Quickie mit dir, hier vor der Kamera.
Während die Assistentin eine Schutzbrille in Form zweier Brüste bringt, überlegst du dir, daß die einzige Chance hier einigermaßen unbeschadet rauszukommen, die ist, absolut zu versagen.
"Das war ein falsches Spiel, das war nicht vereinbart", könntest du dich bei deinen Kollegen entschuldigen eigentlich wollte ich sämtliche Adorno-Werke am ersten Satz erkennen, die haben mich verarscht!"
Ein genialer Plan.
Die Assistentin setzt dir die Brille auf.
"Topp, die Wette gilt!"

Du hörst 10 Paar Stiefel, die eine Treppe runter auf dich zu kommen.
Du hörst 10 Füße, die sich klackend vor dir auf ein Podest stellen.
Du riechst Martina Wollscheid, Gartenstr.12.
Du riechst Angela Mantner, Max-Born. 47
Du riechst Susanne Meier.
Du riechst Andrea, du riechst Lisa, du riechst Julia.
Du riechst sie alle, brauchst nicht mal 1 Minute.
Du kannst einfach nicht anders.

Nach der gewonnen Wette erklärst du dem Moderator und dem lüstern blickenden Nationaltorhüter deinen Trick.
Sprüh Eisspray auf ein Schloß. Zertrümmere es mit einem Eispickel.
Bei unabgesperrten Altbautüren helfen Kreditkarten.
Kleiderbügel helfen bei gekippten Balkontüren.
Wenn man wo hinein möchte, wenn man gerne an Frauenstiefeln riecht, gibt es keine Grenzen.
Der Moderator komplimentiert dich von der Bühne, vertröstet den Nationaltorhüter, der schon seinen Gürtel gelockert hat, auf später.
Du gehst hinter die Bühne, winkst der grölenden Menge zu, fängst wieder an zu humpeln.
Scham kennst du schon nicht mehr.
Dein Auftritt war einfach zu lang.

Der große Moment.
Der Blinde hat versagt.
Der Junge war zu aufmüpfig.
Der Moderator wartet auf das TED-Ergebnis.
Und da ist es schon.
Der Blinde gewinnt, mit kurzem Abstand vor dem kleinen Jungen.
Du kriegst nur eine Stimme.
Eine alte Frau, die behauptet so etwas Entsetzliches noch nie gesehen zu haben.
Der Moderator erzählt noch, daß die alte Frau auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben ist.
Es gibt eine Trauerminute.
Dann singt der Verkehrsminister "An der Nordseeküste".
Dann kommt der Nationaltorhüter mit runter gelassenen Hosen auf dich zu.
Dann wachst du auf.
Schweißnass.
Du gehst in die Küche und willst dir einen Kaffee machen. Da keiner da ist,
machst du dir eine Dose Cola auf. Während du da stehst und trinkst, liest du
aus Mangel an Alternativen die Inhaltsstoffe.

Antioxidationsmittel: Ascorbinsäure

Jetzt kannst du dir wenigstens sicher sein, nicht mehr innerlich zu oxidieren.
Man kann nie wissen. Was für ein Traum! Du siehst aus dem Fenster auf den Balkon deiner Nachbarin. Als sie dich bemerkt, geht sie wieder rein und läßt die Jalousien runter. Was für ein Traum! Ungeduscht gehst du arbeiten.

Die Busfahrerin wartet mit dem losfahren genau bis du an der hinteren Tür bist.
Die jungen Studentinnen wechseln das Abteil als du einsteigst.
Die Kollegen im Büro grinsen dich verschwörerisch an.
Die Kolleginnen nicht.
Die Chefin bestellt dich zu ihr, erzählt etwas von untragbar, von einer Abfindung, wenn du selber fristlos kündigen würdest.
Sie erzählt etwas von ihrem Onkel, von der Therapie, die ihm so half.
Die Polizistin fragt den Büroboten, wo sie dich finden könnte.
Die Auszubildende zeigt auf dich, in dem Moment als du konsterniert das Büro verläßt.
"Da! Da ist das Schwein!"

Du denkst wohl, du hättest es im Fernsehen gesehen!
Du bildest dir wohl ein, davon geträumt zu haben!